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Griechenland ist gerettet – zumindest vorerst. Nach den Beschlüssen des Euro-Sondergipfels vom 21. Juli 2011 stehen dem Land zusätzliche Finanzmittel von über 100 Mrd. Euro zur Verfügung, die es erlauben, die aktuellen Löcher bei der Refinanzierung der Staatsschulden zu stopfen. Doch ist der Staatsbankrott damit wirklich verhindert? Die Autoren beantworten diese Frage mit nein. Dafür analysieren sie die Entwicklung der griechischen Staatsfinanzen mit dem Konzept des fiskalischen Primärüberschusses.

Das Konzept des fiskalischen Primärüberschusses ermöglicht quantifizierbare Aussagen dazu, unter welchen Bedingungen der griechische Staatshaushalt dauerhaft saniert werden könnte und wie in diesem Zusammenhang das aktuelle Rettungspaket und das Sparprogramm der griechischen Regierung zu bewerten sind. Wir wenden das Konzept auch auf die anderen Euroländer an, die derzeit mit Schuldenkrisen zu kämpfen haben. Die Ergebnisse erlauben Rückschlüsse darauf, welche Kreise die aktuelle Schuldenkrise über Griechenland hinaus ziehen könnte und welche Konsolidierungsmaßnahmen in den übrigen Ländern nötig sind, damit sie nicht mit in den Schuldenstrudel gerissen werden.

Wann sind Staaten insolvent?

Bis zu welcher Höhe kann sich ein Staat verschulden? Wird die Grenze in Analogie zum privatwirtschaftlichen Bereich definiert, dann wäre der Insolvenzfall erreicht, wenn die Schulden größer sind als das Vermögen. Misst man das Staatsvermögen am Wert seines Anlage- und Geldvermögens, dann ist dieser Punkt mittlerweile sogar in Deutschland schon erreicht.1 In Griechenland und den anderen Krisenländern ist er allem Anschein nach längst überschritten.

Bei solch einer Rechnung werden die Staatsschulden allerdings weitaus vollständiger erfasst als das Staatsvermögen. Dies gilt insbesondere für das Anlagevermögen, bei dem der tatsächliche Abschreibungsbedarf tendenziell überschätzt wird und in dem viele langlebige Wirtschaftsgüter im Besitz der öffentlichen Hand gar nicht berücksichtigt sind. Insofern ist ein negatives staatliches Netto-Vermögen vielleicht eine Schlagzeile wert, aber nicht mit staatlicher Insolvenz gleichzusetzen. Hinzu kommt, dass der Staat – anders als private Wirtschaftssubjekte – Zugriff auf das Vermögen seiner Bürger hat. Zwar wird er nicht das gesamte private Vermögen zur Bedienung seiner Staatsschulden konfiszieren können, aber er hat die Möglichkeit, über steuerpolitische und andere Maßnahmen zumindest teilweise auf das Volksvermögen zuzugreifen und damit die Grenze der Verschuldung hinauszuschieben.

Ein weiteres Kriterium, das sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder herangezogen wird, ist die Relation der Zinsausgaben zu den Staatseinnahmen: Je höher die Staatsschuld, desto mehr Mittel müssen für den Schuldendienst bereitgestellt werden und desto geringer wird der Bewegungsspielraum bei den übrigen Staatsausgaben. Tatsächlich werden die gesamten staatlichen Zinsausgaben in Griechenland nach Berechnungen der OECD im Jahr 2011 bei 5,6% des Bruttoinlandsprodukts liegen (Deutschland: 2,1%).2 Dies ist erheblich, aber von einer vollständigen Lähmung der Staatsaktivitäten durch die Zinslast kann auch bei dieser Größenordnung noch keine Rede sein. Außerdem gilt auch hier, dass sich der Staat im Notfall höhere Einnahmen verschaffen kann, indem er seine Bürger stärker zur Kasse bittet.

Die auf die Solvenz abstellende Relation zwischen Staatsschuld und Staatsvermögen sowie die auf die Liquidität abstellende Relation zwischen Zinsausgaben und Staatseinnahmen liefern also ein eher diffuses Bild, das Raum für vielfältige Interpretationen lässt. In der finanzwissenschaftlichen Literatur steht deshalb ein anderes Konzept im Vordergrund, und zwar das Konzept des benötigten Primärüberschusses, das auf die Nachhaltigkeit der staatlichen Einnahmen- und Ausgabenpolitik abstellt.3

Der Grundgedanke dabei ist einfach: Wir wissen zwar nicht, wo die absolute Obergrenze der staatlichen Schuldenquote genau liegt, aber wir wissen immerhin, dass diese Quote nicht ins Unendliche steigen kann. Denn dann würde irgendwann in der Zukunft zwangsläufig ein Punkt erreicht sein, an dem der Staat insolvent wird. Anstatt zu diskutieren, wo dieser Punkt genau liegt, wird hier diskutiert, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die staatliche Schuldenquote zumindest stabil gehalten werden kann. Wie sich zeigen lässt, kommt es dabei auf die sogenannte Primärüberschussquote des Staatsaushalts an.4 Sie ist definiert als Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben des Staates in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, wobei von den Staatsausgaben die Zinsausgaben abgezogen werden.

Um zu bestimmen, ob die tatsächliche Primärüberschussquote eines Staates den Anforderungen einer nachhaltigen Fiskalpolitik mit konstanter Schuldenquote genügt, wird sie mit der benötigten Primärüberschussquote PÜ* verglichen, die gemäß der folgenden Gleichung ermittelt wird:5

(1) PÜ* = (i - g) S

Dabei bezeichnet i den Zinssatz, den der Staat durchschnittlich für seine Schulden zahlen muss, g bezeichnet die nominale gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate und S bezeichnet die Staatsschuldenquote in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt.6

Ein praktikables Instrument zum Ausloten der Grenzen der Staatsverschuldung wird das Konzept allerdings erst dann, wenn es mit Kriterien dafür unterlegt wird, welche Primärüberschussquoten die staatliche Haushaltspolitik überhaupt erzielen kann und wo der Bereich beginnt, in dem die Kluft zwischen benötigtem und erzielbarem Primärüberschuss unüberwindbar groß wird.

Abbildung 1
Häufigkeitsverteilung der Primärüberschussquoten
Relative Häufigkeit in %
Klodt-Abb1.ai

Quelle: OECD: OECD Economic Outlook.

Wo liegt die kritische Schwelle?

Um einen Eindruck davon zu gewinnen, welche Primärüberschussquoten von Staaten überhaupt erzielt werden können, hilft ein Blick in die Statistik. Die OECD weist diese Daten regelmäßig für 27 ihrer Mitgliedsländer aus, darunter auch für 18 Mitgliedsländer der Europäischen Union, von denen wiederum zwölf der Eurozone angehören. Deutschland beispielsweise erreichte in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Primärsaldoquote zwischen -1,2% und 2,1%. In den späten 1990er Jahren, als es darum ging, sich für den Eurobeitritt zu qualifizieren, kamen einzelne Länder vorübergehend mit ihrer Primärüberschussquote in den Bereich von 5%, allerdings selten oder nie über einen längeren Zeitraum hinweg. Abbildung 1 stellt die Häufigkeitsverteilung der Primärüberschussquoten für alle Länder dar, die von der OECD ausgewiesen werden. Dabei wurden – soweit verfügbar – Daten ab 1980 bis zum Jahr 2010 verwendet. Das ergibt einen Datensatz von insgesamt 712 Beobachtungen.

In all den Jahren ist es den im Datensatz enthaltenen Ländern nur in etwas mehr als 3% der Fälle gelungen, eine Primärüberschussquote von 5% oder darüber zu erzielen. Dies lässt den vorsichtigen Schluss zu, dass es für ein Land mehr als schwer werden dürfte, einen Anstieg seiner Staatsschulden zu verhindern, wenn die benötigte Primärüberschussquote über diesem Schwellenwert liegt.

Dabei wird die Größe der Herausforderung für den Staatshaushalt durch die Darstellung in Abbildung 1 eher noch beschönigt. Denn ein Land, das mit hohen Staatsschulden zu kämpfen hat, wird sie nur dann unter Kontrolle bekommen, wenn es nicht nur für ein Jahr, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg mindestens den benötigten Primärüberschuss erzielen kann. Deshalb ist in Abbildung 2 abgetragen, wie viele Länder es überhaupt geschafft haben, eine Primärüberschussquote von 5% oder mehr über einen zusammenhängenden Zeitraum von einem Jahr, zwei Jahren, drei Jahren und vier oder mehr Jahren zu erzielen. In die letzte Kategorie fallen nur noch zwei Länder, die beide während des gleichen Zeitraums zwischen 1996 und 2002 hohe Primärüberschüsse erzielten: Kanadas Primärüberschussquote lag vier Jahre lang über der Schwelle von 5% und war das Resultat harter Sparmaßnahmen, die angesichts einer innerhalb von 15 Jahren um über 50% angestiegenen Schuldenquote beschlossen wurden. Das zweite Land ist Belgien, das in den späten 1990er Jahren darum fürchten musste, sich für die Euro-Mitgliedschaft zu qualifizieren. Aufgrund der damals schon exorbitant hohen Staatsschuldenquote hätte es diese Bedingungen eigentlich verfehlt, aber es wurde damals beschlossen, Belgien dennoch zum 1. Januar 1999 in die Eurozone aufzunehmen, da im laufenden Staatshaushalt so umfangreiche Einsparungen erzielt worden waren.

Abbildung 2
Häufigkeitsverlauf der Primärüberschussquoten
Anzahl der Länder
Klodt-Abb2.ai

Der Datensatz für Abbildung 2 ist identisch mit demjenigen für Abbildung 1.

Quelle: OECD: OECD Economic Outlook.

Manche anderen Länder waren in den vergangenen Jahren ähnlichen Sparzwängen unterworfen wie damals Belgien und wie heute die Länder der Eurozone. Ungarn und Polen beispielsweise bekamen im vergangen Jahrzehnt ihre staatlichen Haushalte nur unter massiver Hilfe des Internationalen Währungsfonds in den Griff. In den frühen 1990er Jahren musste Polen sogar zu einer Umschuldung Zuflucht nehmen, die mit einem kräftigen Schuldenschnitt für die Gläubiger verbunden war. Doch trotz des massiven Drucks haben es weder Ungarn noch Polen jemals geschafft, eine Primärsaldoquote von 5% oder mehr zu erzielen. Ähnliches gilt für Island, das nach dem Zusammenbruch der Kaupthing Bank erheblichen Sparzwängen ausgesetzt war, dessen Primärüberschussquote aber ab dem Jahr 2008 sogar tief ins Minus rutschte, da nicht nur die Staatsausgaben reduziert wurden, sondern die Staatseinnahmen infolge der daraus resultierenden Rezession noch viel stärker einbrachen.7

All diese empirische Evidenz zusammengenommen spricht dafür, eine benötigte Primärüberschussquote von 5% tatsächlich als kritische Schwelle anzusehen, deren Überschreitung über einen längeren Zeitraum hinweg ohne Hilfe von außen kaum noch möglich sein dürfte. Zwar gab es immer wieder einzelne Jahre, in denen einige Länder diese Schwelle überwunden haben, aber über Jahre und Jahrzehnte ist ein solches Ziel weitgehend illusorisch. Mit Hilfe des Schwellenwerts von 5% ist es also möglich, ein fundiertes Urteil darüber abzugeben, ob die verschiedenen Euroländer überhaupt eine realistische Chance haben, ihre staatlichen Haushaltsprobleme ohne nennenswerte Umschuldung nachhaltig und auf Dauer in den Griff zu bekommen.

Welche Länder sind gefährdet?

Für die längerfristige Perspektive kommt es nicht darauf an, welches Land zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang auslaufende alte Staatsschuldenpapiere durch neue Anleihen ersetzen muss. Es kommt auch nicht darauf an, zu welchem Zins die derzeit in Umlauf befindlichen Staatsschuldpapiere bedient werden müssen oder ob die Laufzeiten mehr oder weniger großzügig verlängert werden. Irgendwann ist auch die längste Übergangsfrist ausgelaufen, und dann kommt es nur noch darauf an, wie hoch der Finanzbedarf ist, nachdem sich die Struktur der Staatsschulden an die neuen Bedingungen auf den internationalen Finanzmärkten angepasst hat.

Da eine solche Vorausschau naturgemäß mit großen Unsicherheiten verbunden ist, arbeiten wir mit mehreren Szenarien. Zu den wichtigsten Rahmendaten für die Szenarien gehört die Annahme darüber, welche Zinsen künftig durchschnittlich für die Staatsschuldpapiere zu zahlen sein werden. Grundsätzlich verwenden wir in unseren Berechnungen Zinsen für zehnjährige Staatsschuldtitel. Obwohl die durchschnittlichen Laufzeiten staatlicher Schuldenportfolios unterschiedlich sind und mitunter erheblich kürzer als zehn Jahre sein können, stellen sie eine gute Approximation der tatsächlich gezahlten Zinsen dar.8 Speziell für Griechenland gilt darüber hinaus, dass mit den Beschlüssen des EU-Sondergipfels die durchschnittliche Laufzeit von Staatsschuldtiteln in privater Hand von sechs Jahren auf etwa elf Jahre erhöht wurde.9

  • In unserem pessimistischen Szenario unterstellen wir, dass die aktuellen Zinsen, wie sie von der Europäischen Zentralbank für zehnjährige Staatsschuldtitel für den Juli 2011 ermittelt worden sind, auch in Zukunft gültig sein werden. Dieses Szenario ist insofern pessimistisch, als das aktuelle Zinsniveau durch panikartige Überreaktionen der Finanzmärkte mit beeinflusst sein dürfte.
  • Das optimistische Szenario geht von Zinssätzen aus, die nach wie vor in erheblichem Maße nach den jeweiligen Länderrisiken differenziert sind, die aber unterstellen, dass sich die Panik an den internationalen Finanzmärkten irgendwann wieder legen wird. Dafür nehmen wir keine eigenen Schätzungen vor, sondern wir beziehen uns auf die Zinsprognosen, die die OECD für das vierte Quartal des Jahres 2012 erstellt hat und in denen sie davon ausgeht, dass die Turbulenzen an den Finanzmärkten überwunden sein werden.

Um die daraus abzuleitenden benötigten Primärüberschussquoten gemäß Gleichung (1) berechnen zu können, müssen ergänzend dazu Annahmen über das nominale Wirtschaftswachstum getroffen werden. Auch hier arbeiten wir mit einem eher pessimistischen und einem eher optimistischen Szenario, indem wir für ersteres eine langfristige Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts von 2% und für letzteres eine Wachstumsrate von 4% unterstellen.10 Die Ergebnisse dieser Szenarien sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Sie verdeutlichen, dass es Griechenland selbst unter optimistischen Annahmen nicht schaffen wird, seine Staatsschulden in den Griff zu bekommen, da es dafür auf Dauer Primärüberschüsse erzielen müsste, die weit jenseits der 5%-Marke liegen.

Tabelle 1
Benötigte Primärüberschussquoten unter verschiedenen Zins- und Wachstumsannahmen
  Benötigter PÜ (%) PÜ 2010
  bei aktuellem Zins1 bei erwartetem Zins2  
Land g = 2% g = 4% g = 2% g = 4%  
Griechenland 21,59 18,53 11,5 8,45 -1,65
Irland 11,93 9,64 6,09 3,81 -5,28
Italien 4,2 1,77 4,41 1,99 1,41
Portugal 10,22 8,21 5,18 3,16 -4,88
Spanien 2,59 1,24 2,46 1,11 -3,53
Belgien 2,15 0,21 2,92 0,98 0,54
Dänemark 0,46 -0,44 1,12 0,21 1,33
Deutschland 0,62 -1,05 1,87 0,2 -0,23
Finnland 0,62 -0,45 1,36 0,29 0,1
Frankreich 1,19 -0,51 2,21 0,52 -2,52
Luxemburg 0,2 -0,19 0,51 0,13 0,8
Niederlande 0,77 -0,54 1,63 0,32 -2,02
Österreich 1 -0,48 1,87 0,4 -1,04
Schweden 0,27 -0,45 0,83 0,11 2,03
Tschechien 0,74 -0,09 1,36 0,54 -2,38
Ungarn 3,96 2,48 3,3 1,82 0,73
Großbritannien 0,76 -0,96 2,48 0,76 -5,73
Griechenland mit Rettungsschirm 14,83 11,78 8,27 5,22 -1,65

1 Sekundärmarktzins für zehnjährige Staatsanleihen, Stand Juli 2011.
2 Prognose für zehnjährige Staatsanleihen im 4. Quartal 2012.

Quellen: Eigene Berechnungen; EZB: Long-term interest rate statistics for EU Member States, in: European Central Bank (Hrsg.), 2011, http://www.ecb.int/stats/money/long/html/index.en.html; OECD: OECD Economic Outlook, Jg. 2011, Nr. 1, 2011.

Prognosen anderer Institutionen

Dieses ernüchternde Ergebnis steht in auffälligem Kontrast zu den Perspektiven aus den aktuellen Länderberichten der OECD und des IWF für Griechenland. Dort wird unterstellt, dass Griechenland seine Haushaltsprobleme spätestens ab dem Jahr 2015 in den Griff bekommen wird und dass die Staatsschuldenquote ab dem Jahr 2030 sogar unter die Maastricht-Grenze von 60% gesenkt werden kann. Ein genauer Blick in diese Länderberichte zeigt, dass beide Organisationen dafür sehr heroische Annahmen über die vom griechischen Staat erzielbaren Primärüberschussquoten machen. 2011 wird für Griechenland noch ein Primärüberschuss in der Nähe von Null ausgewiesen, während schon im Jahr 2012 eine Quote von 2,6% erreicht werden soll. Für die Jahre ab 2015 geht die OECD von einer Primärüberschussquote deutlich über 5% aus, der IWF nimmt sogar Quoten zwischen 6,4% und 7,2% an, und zwar nicht nur kurzfristig und vorübergehend, sondern über Jahrzehnte hinweg.11

Die euphorischen Projektionen zu den Primärüberschüssen reflektieren nicht nur euphorische Erwartungen an die Haushaltskonsolidierung, sondern auch an die gesamtwirtschaftliche Dynamik. So unterstellt die OECD eine konjunkturelle Unterauslastung von mehr als 10%, womit sie das Produktionspotenzial weit überschätzen dürfte. Und der IWF unterstellt ein Exportwachstum von 8% pro Jahr, ohne sich darum zu kümmern, ob die dafür nötige Exportbasis überhaupt vorhanden ist.

Eine extrem optimistische Prognose macht auch der Branchenverband der Finanzinstitute, das Institute of International Finance (IIF).12 Unter Berücksichtigung der Beschlüsse vom 21. Juli 2011 soll die Schuldenquote demnach bereits 2020 unter die 100%-Marke sinken. Hierfür wäre allerdings eine Primärüberschussquote notwendig, die ab 2014 und in allen Folgejahren konstant über 6% liegen würde. Eine derart positive Entwicklung wäre natürlich erfreulich, würde sie doch auch bedeuten, dass die vom IIF vertretenen Banken und Versicherungen keinen Schuldenschnitt verkraften müssten – wie unsere Analysen gezeigt haben, sind derartige Hoffnungen jedoch schlichtweg illusorisch.

Eingewandt werden könnte, dass die in unseren Szenarien enthaltenen Annahmen über die von Griechenland zu zahlenden Zinsen insofern zu pessimistisch seien, als die Beschlüsse vom 21. Juli 2011 vorsehen, zumindest einen Teil der griechischen Staatsschuld vom EFSF finanzieren zu lassen, und zwar zu einem Zinssatz von 3,5%. Insgesamt geht es dabei um öffentlich garantierte Kredite, deren Umfang mit 109 Mrd. Euro beziffert wird. Dies entspricht etwa einem Drittel der aktuellen Staatsschuld Griechenlands. Wir haben deshalb alternativ den benötigten Primärüberschuss Griechenlands auch unter der Annahme berechnet, dass 35% der griechischen Staatsschuld zu 3,5% finanziert werden können, während für die übrigen 65% die Zinssätze aus den Ausgangsszenarien beibehalten werden. Selbst unter dieser Annahme, die in der untersten Zeile der Tabelle dargestellt ist, bleibt Griechenland mit seiner benötigten Primärüberschussquote immer noch über der kritischen Marke von 5%.

Auch die vorgesehene Teilentschuldung durch den Forderungsverzicht privater Gläubiger wird daran wenig ändern. Selbst wenn die beim Euro-Gipfel im Juli 2011 dazu abgegebenen Absichtserklärungen vollständig umgesetzt würden (was angesichts der Freiwilligkeit des Forderungsverzichts und der vagen Aussagen zu seiner konkreten Umsetzung mehr als fraglich erscheint), bliebe die griechische Schuldenquote in einer Größenordnung von rund 150%, wie es auch bei den Berechnungen für Tabelle 1 unterstellt ist.13

Zur makroökonomischen Herausforderung der Haushaltskonsolidierung kommt die mikroökonomische Herausforderung der Strukturreformen hinzu. Schuldenkrisen sind stets auch Ausdruck überzogener Einkommensansprüche an das Sozialprodukt.14 Vor allem Griechenland wird um einen kräftigen Rückschnitt im staatlichen und privaten Konsum nicht herumkommen.15

Aussichten der anderen Euroländer

Wie sieht es in den anderen Euroländern aus? Auch wenn die aktuelle Diskussion derzeit eher um Italien und Spanien kreist, zeigen unsere Berechnungen in Tabelle 1, dass Portugal weit eher als Sorgenkind gelten muss. Ebenso wie in Griechenland sind dort zur langfristigen Stabilisierung der Staatsschuld Primärüberschussquoten nötig, die nur unter optimistischsten Annahmen unterhalb der 5%-Marke bleiben dürften. Ähnlich ist das Bild für Irland, das seine Staatsschuldenquote in jüngster Zeit in atemberaubendem Tempo nach oben katapultiert hat. Anders als Griechenland und Portugal verfügt Irland allerdings über ein Besteuerungspotential, das bei Weitem nicht ausgeschöpft ist.16

Vollständig im grünen Bereich liegen Spanien, Italien und Frankreich, die derzeit ebenfalls unter der Nervosität der Finanzmärkte zu leiden haben, da es dort möglicherweise an der nötigen politischen Entschlossenheit zur Haushaltskonsolidierung fehlt. In längerfristiger Perspektive können die Staatsfinanzen dieser Länder als durchaus solide gelten. Wie die benötigten Primärüberschussquoten zeigen, gibt es dort keine Solvenzprobleme, die zu Dominoeffekten in der Schuldenkrise führen könnten. Solange die gute Solvenz nicht durch kurzfristige Liquiditätsprobleme (ausgelöst durch negative Urteile schlecht informierter, interessengeleiteter oder allzu kurzfristig orientierter Rating-Agenturen) überdeckt wird, werden diese Länder ohne Zweifel in der Lage sein, ihre Staatshaushalte im Griff zu behalten.

Anders als die Krisenländer würden Länder wie Deutschland oder Dänemark bei einem beruhigten Kapitalmarkt höhere Primärüberschussquoten benötigen als unter den gegenwärtigen Bedingungen. Hierfür gibt es zwei Gründe: Erstens gehen wir (in Übereinstimmung mit den Schätzungen der OECD für das vierte Quartal 2012) auf mittlere bis längere Sicht von einem moderaten weltweiten Zinsanstieg aus, weil die Zentralbanken ihre extrem expansive Geldpolitik nicht unbegrenzt fortführen werden und/oder weil die Zinsen auf steigende Inflationserwartungen reagieren dürften. Zweitens dürfte die derzeit hohe Nachfrage nach „sicheren Häfen“ auf dem beruhigten Kapitalmarkt zurückgehen. Die Investoren werden sich dann wieder vermehrt den heutigen Krisenländern zuwenden, wodurch die Zinsen dort sinken und im Gegenzug in den krisensicheren Staaten steigen werden.

Umschuldung für Griechenland und Portugal unausweichlich

Wie unsere Analyse zeigt, ist Griechenland trotz des im Juli 2011 beschlossenen Hilfspakets alles andere als gerettet. Die staatliche Überschuldung hat ein Ausmaß erreicht, das selbst unter relativ optimistischen Annahmen über die künftige Wachstums- und Zinsentwicklung nicht mehr beherrschbar ist. Wenn die Rettungspakete nicht ins Uferlose wachsen sollen, führt an einem kräftigen Schuldenschnitt kein Weg vorbei. Ähnlich verfahren ist die Situation in Portugal. Wachsamkeit ist auch in Irland geboten, während Länder wie Spanien, Italien oder Frankreich weit von einer staatlichen Insolvenz entfernt sind.

Die öffentliche Debatte wird derzeit geprägt von den Hiobsbotschaften der Rating-Agenturen einerseits und den Schönmalereien politischer Institutionen wie der OECD oder dem IWF andererseits. Sie könnte spürbar an Klarheit gewinnen, wenn sie sich stärker auf das objektive Messkonzept des benötigten Primärüberschusses und die dabei verwendeten Fundamentaldaten stützen würde. Mit seiner Hilfe lässt sich auf recht einfache und zuverlässige Weise abschätzen, ob die Verschuldung von Staaten auch in Zukunft tragbar sein wird oder nicht. Damit kann es dazu beitragen, die atemlose Hektik aus der Debatte zu nehmen und künftige Staatsschuldenkrisen früher zu erkennen als bisher.

  • 1 Vgl. A. Boss, H. Klodt et al.: Haushaltskonsolidierung und Subventionsabbau. Wie der Staat seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen kann, Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Nr. 3, Institut für Weltwirtschaft, Kiel 2011, S. 3. Online verfügbar unter http://www.ifw-kiel.de/pub/wipo/volumes/wipo_03.pdf.
  • 2 Vgl. OECD: OECD Economic Outlook, Jg. 2011, Nr. 1, Paris 2011.
  • 3 Vgl. W. H. Buiter, K. M. Kletzer: Government Solvency, Ponzi Finance and the Redundancy and Usefulness of Public Debt, NBER working paper 4076, Cambridge MA 1992; vgl. auch W. H.Buiter: Public debt in the USA. How much, how bad and who pays?, NBER working paper 4362, Cambridge MA 1993; B. U. Wigger: Öffentliche Haushalte in der Krise, in: T. Theurl (Hrsg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Berlin 2010, S. 85-103.
  • 4 Smeets zieht das Konzept des Primärüberschusses zur Beurteilung der aktuellen Lage in Griechenland heran, wobei er allerdings den Liquiditätsbedarf bei der Refinanzierung der Staatsschulden in den Vordergrund stellt. Vgl. H.-D. Smeets: Ist Griechenland noch zu retten?, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg.  (2010), H. 5, S. 209-313; siehe auch A. Herzberg, H.-D. Smeets: Staatliche Insolvenz in einer Währungsunion, in: Aussenwirtschaft, 65. Jg. (2010), H. 4, S. 379-399.
  • 5 Vgl. O. Blanchard et al.: The sustainability of fiscal policy. New answers to an old question, in: OECD journal: economic studies, H. 15, 1990, S. 7-36.
  • 6 Anhand dieser Formel ist leicht nachvollziehbar, dass eine nachhaltige Haushaltspolitik umso schwerer fällt, je höher die Staatsschuldenquote ist. Der Anstieg der Schuldenquote von 105% auf über 150%, wie er sich in Griechenland seit dem Jahr 2007 vollzogen hat, ist (unter sonst unveränderten Bedingungen) gleichbedeutend mit einer Erhöhung der benötigten Primärüberschussquote um rund 45%. Die Formel verdeutlicht auch, weshalb es für staatliche Haushaltspolitiker verlockend sein könnte, sich über einen Anstieg der allgemeinen Inflationsrate zu entschulden. Zwar würde ein inflationärer Anstieg der nominalen Wachstumsrate g vermutlich zumindest auf mittlere Sicht durch einen entsprechenden Anstieg der Nominalzinsen i kompensiert werden. Dieser Zinsanstieg würde allerdings nicht für die Altschulden des Staates gelten, soweit sie mit festverzinslichen Staatsschuldtiteln finanziert wurden. Um den Schuldenabbau zu unterstützen, bräuchte es über mehrere Jahre hinweg eine Inflation von 4% oder 6%, meint der derzeit an der Harvard-Universität lehrende frühere IWF-Chefökonom Kenneth Rogoff. Vgl. L. Millot: Une grande contraction comme il en arrive tous les soixantequinze ans‘, in: Libération, 2011, http://www.liberation.fr/economie/01012353339-une-grande-contraction-comme-il-en-arrive-tous-les-75-ans, 24.8.2011.
  • 7 Wie sehr die bei starken Sparmaßnahmen unvermeidliche Stabilisierungsrezession die Haushaltskonsolidierung erschwert, zeigt sich an den griechischen Haushaltszahlen für die ersten sieben Monate des Jahres 2011: Trotz aller Bestrebungen, zu einer effektiveren Besteuerung zu kommen, blieben die Staatseinnahmen um 1,9 Mrd. Euro hinter den Einnahmen des entsprechenden Vorjahreszeitraums zurück. Warum allerdings auch die Staatsausgaben nicht im Plan blieben und um 2,7 Mrd. Euro höher ausfielen als im Vorjahr, ist damit nicht erklärt. Vgl. Hellenische Republik, Ministerium der Finanzen: Press release on the State Budget execution January-July 2011, http://www.minfin.gr/portal/en/resource/contentObject/id/fa0f80b1-0cb0-4671-90d1-a8554d0c6db5.
  • 8 Dies zeigt ein Vergleich der historischen langfristigen Zinsen, die von der OECD dokumentiert werden, mit dem jeweils aus Staatsschuld und Zinszahlung errechneten Durchschnittszins.
  • 9 Vgl. J. Anderson, G. Jeffrey: Greece: Debt Sustainability Improved, IIF Research Note, The Institute of International Finance, Washington DC, August 2011.
  • 10 Ähnlich geht Smeets vor, der bei seiner Analyse für Griechenland eine längerfristige nominale Wachstumsrate von 3% unterstellt. Vgl. H.-D. Smeets: Ist Griechenland noch zu retten?, a.a.O.
  • 11 Vgl. OECD: Economic Surveys Greece 2011, Paris 2011; OECD, a.a.O.; International Monetary Fund (IMF): Greece. Fourth Review Under the Stand-By Arrangement and Request for Modification and Waiver of Applicability of Performance Criteria, IMF Country Report, 11 175, Washington DC 2011.
  • 12 Vgl. J. Anderson, G. Jeffrey, a.a.O.
  • 13 Da selbst die optimistischen langfristigen Prognosen von IWF und IIF für die kommenden Jahre eine bis auf 172% ansteigende Schuldenquote vorhersagen und große Unsicherheit über den Beteiligungsgrad des Privatsektors am freiwilligen Forderungsverzicht herrscht, ist eine Reduktion der Staatsschuld durch diese Maßnahme um rund 20 Prozentpunkte sogar eher als optimistisch zu bewerten.
  • 14 Vgl. M. Baumgarten, H. Klodt: Die Schuldenmechanik in einer nicht-optimalen Währungsunion, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 6, S. 374-379.
  • 15 Für eine detaillierte Analyse der nötigen Strukturanpassungen in Griechenland vgl. K. Schrader, C.-F. Laaser: Den Anschluss nie gefunden. Die Ursachen der griechischen Tragödie, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 8, S. 540-547. Zu Portugal und Spanien vgl. K. Schrader, C.-F. Laaser: Die Krise in Südeuropa oder die Angst vor dem Dominoeffekt, Kieler Diskussionsbeiträge, Institut für Weltwirtschaft, Kiel, im Erscheinen
  • 16 Es ist nachvollziehbar, dass Irland dieses Potential nur zögernd ausschöpft, da es internationale Investoren nicht verschrecken möchte. Aber wenn es darum geht, ob irische oder ausländische Steuerzahler für die Staatsschuld Irlands einstehen müssen, dann fällt die Entscheidung zumindest aus Sicht der ausländischen Steuerzahler recht leicht.

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DOI: 10.1007/s10273-011-1269-8

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